Den Führerschein schafft in Amerika jeder 16-jährige Austauschschüler. Also eigentlich kein Problem für einen erfahrenen Autofahrer – es sei denn, er “übersieht” einen unsichtbaren Fußgängerüberweg. (7. Juni 2005)

In Amerika gehört der Führerschein zu den wichtigsten Dokumenten überhaupt. Er ist Fahrerlaubnis, Personalausweis, zugleich Reisepass und Wahlregistrierung. Europäische Führerscheine werden problemlos anerkannt, wenn man als Tourist ein Auto mietet. Will man sich aber in Kalifornien niederlassen, benötigt man laut Gesetz innerhalb von zehn Tagen nach Ankunft einen kalifornischen Führerschein.

Dabei veranstalten die Amerikaner genauso viel bürokratischen Aufwand wie die Deutschen. Man braucht das Formular DL-44, Passfoto, Fingerabdruck, Sehtest, Reisepass, Visum, den Führerschein des Heimatlandes und eine Sozialversicherungskarte. Um die rechtzeitig zu bekommen, müsste man sie allerdings schon eine Woche vor Ankunft in den USA beantragen.

Hat man alles beisammen, wartet die eigentliche Herausforderung. Denn der Führerschein wird nicht einfach umgeschrieben. Alle Inhaber ausländischer Führerscheine müssen eine vollständige theoretische und praktische Fahrprüfung ablegen. Herzlichen Glückwunsch! Hätten Sie gewusst, wie schnell man in Meilen pro Stunde auf innerstädtischen, mindestens zweispurigen Straßen, die durch Grünstreifen oder doppelte Linien vom Gegenverkehr getrennt sind, fahren darf?

Für die praktische Prüfung braucht man ein eigenes Auto mit Nachweis über eine Haftpflichtversicherung – für die Zulassung ist aber ein kalifornischer Führerschein nötig. Zum Glück kann man die Prüfung auch mit einem Mietwagen absolvieren. Der Praxistest selbst sollte für einen erfahrenen Autofahrer ja kein Problem sein. Was kann da schon schief gehen? Und außerdem, sollen amerikanische Fahrprüfungen im Vergleich zu deutschen nicht ohnehin läppisch sein? Wider erwarten ist die Theorie einfacher als die Praxis.

Mir persönlich wurde der “unmarked crosswalk”, der unsichtbare Fußgängerüberweg, zum Verhängnis. Diese äußerst ungewohnte Regelung schreibt vor, dass an jeder Kreuzung Fußgänger auf gedachten Verlängerungen der Gehwege Vorfahrt vor Autos haben. Selbst wenn diese auf einer sechsspurigen Vorfahrtsstrasse geradeaus unterwegs sind. Als unwissender Deutscher fuhr ich ganz selbstverständlich an den wartenden Fußgängern vorbei.

Vom Prüfer mit meinem Fehler konfrontiert, fühlte ich mich an eines der absurden Gesetze erinnert, die zwar formal in Kraft sind, aber aus offensichtlichen Gründen nicht mehr der Strafverfolgung unterliegen. In Memphis, Tennessee, zum Beispiel, dürften Frauen eigentlich nur dann Auto fahren, wenn ein Mann davor herläuft und Fußgängern und anderen Autofahrern mit einer roten Fahne die sprichwörtliche “Frau am Steuer” ankündigt.

Trotzdem sollten Sie sich im USA-Urlaub niemals auf den unsichtbaren Fußgängerüberweg verlassen, denn Sie werden überfahren werden. Wenn nicht von mir, dann von einem der 200 Millionen Amerikaner, die die Regel ebenfalls nicht kennen oder missachten. Gut, mit Glück und den richtigen Anwälten kann man damit reich werden, aber bei Pech ist man nur ein Teil der ohnehin bereits beeindruckenden Unfallstatistik von Los Angeles.

Beim zweiten Anlauf geriet ich an einen jungen kolumbianischen Einwanderer als Prüfer, der wissen wollte, was bei der ersten Prüfung schief gelaufen sei. Er reagierte sehr verständnisvoll auf meine Erklärung, dass es in Deutschland keine unsichtbaren Fußgängerüberwege gebe. Auf der Fahrt unterhielten wir uns dann angeregt über Fußball. Bis ich mich über die Finanzpolitik meines Lieblingsvereins Borussia Dortmund derart echauffierte, dass ich mit beiden Händen wild gestikulierte und dabei mit den Knien lenkte.

Das hätte mich in Deutschland vermutlich zum Idiotentest gebracht, aber mein kolumbianischer Fußballfan übersah den Lapsus gnädig. Vielleicht war er auch nur abgelenkt, denn er erzählte gerade eine Anekdote über seinen heiß geliebten Porsche. Der war genau da, wo wir gerade vorbeifuhren, von einem Geländewagen überfahren worden. Ich hatte also Glück und bekam den ersehnten Führerschein. Aber wenn mir noch einmal jemand weismachen will, dass amerikanische Führerscheinprüfungen nur ein Witz seien, springe ich dem Schlaumeier auf die Motorhaube und behaupte, ich sei auf einem unsichtbaren Fußgängerüberweg gewesen.